Timofej Wassiljewitsch Prochorow - besser bekannt als Väterchen Timofei - war ein gläubiger russischer Eremit. Von 1952 bis 2004 lebte er auf dem Oberwiesenfeld und späteren Olympiagelände. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatte es ihn aus Bagajewskaja am Don nach München verschlagen.
Zusammen mit seiner Weggefährtin Natalja Dankowa errichtete er nach seiner Ankunft aus dem Kriegsschutt am Rand des Flugplatzes Oberwiesenfeld die Ost-West-Friedenskirche und weitere Schwarzbauten. Als 1968 die Arbeiten zur Errichtung der Sportstätten für die Olympischen Spiele 1972 begannen, sollten beide vertrieben werden.

Unbekannt, Fotografie, 1969, IMAGO/WEREK

Unbekannt, Fotografie, 1969, IMAGO/WEREK

Unbekannt, Fotografie, 1971, IMAGO/WEREK

Unbekannt, Fotografie, 1971, IMAGO/WEREK
Südlich des Bereichs, den sie bewohnten, war ein Reitstadion für die Wettkämpfe im Springreiten vorgesehen. Auf dem Areal mit der Enklave der beiden Eremiten sollten die dazugehörigen Trainingsanlagen und Stallungen entstehen.
Deutschlandspiegel 1968
Das Vorhaben stieß jedoch auf massive Proteste der lokalen Presse und der Bevölkerung. Diese übten einen so starken Druck auf die Verantwortlichen aus, dass 1971 eine Verlegung des geplanten Stadions nach München-Riem beschlossen wurde. Timofej durfte mit Natalja bleiben und die Presse feierte ihn als "Münchens ersten Olympiasieger".

Georg Fruhstorfer, Fotografie, 1972, Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Georg Fruhstorfer

Georg Fruhstorfer, Fotografie, 1972, Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Georg Fruhstorfer
Schon zu Lebzeiten wurde Timofej zu einem "Wahrzeichen Münchens". Wegen seines nie vollends überprüften Alters bezeichnete man ihn als "Methusalem vom Oberwiesenfeld". Seit Langem gilt die Enklave inmitten des Olympiaparks als Sehenswürdigkeit, die jährlich unzählige Besucher*innen anzieht.
"Mehr Demokratie wagen"
Ende der 1960er Jahre verlangten die Bürger*innen zunehmend mehr Mitsprache bei politischen Entscheidungen und Gestaltungsprozessen. Diese Bedürfnisse spiegeln sich auch deutlich in den massiven Protesten anlässlich der geplanten Räumung der Einsiedelei von Timofej und Natalja wider.

Marlies Schnetzer, Fotografie, um 1971, Marlies Schnetzer/Süddeutsche Zeitung Photo

Marlies Schnetzer, Fotografie, um 1971, Marlies Schnetzer/Süddeutsche Zeitung Photo
Derartige Forderungen aus der Bevölkerung griff Willy Brandt in seiner Antrittsrede als Bundeskanzler im Oktober 1969 auf. Sein Regierungsprogramm umriss er mit den Worten "Wir wollen mehr Demokratie wagen" und traf damit den Nerv der Zeit.

Unbekannt, Fotografie, 1969, dpa/Süddeutsche Zeitung Photo

Unbekannt, Fotografie, 1969, dpa/Süddeutsche Zeitung Photo
Genau das taten sein Parteikollege und Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel sowie die Olympiaplaner, als sie sich der öffentlichen Meinung anschlossen. Damit hatte sich die Bevölkerung erfolgreich eine Mitsprache erkämpft und für ein Bleiben der beiden Eremiten eingesetzt. Das Reitstadion wurde nach München-Riem verlegt.

Angermaier, Fotografie, 1969, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-STB-7432)

Angermaier, Fotografie, 1969, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-STB-7432)
Werbewirksam nutzte Willi Daume, der damalige Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, diese Entscheidung in eigener Sache. Zu dem Verbleib Timofejs inmitten des Olympiageländes sagte er: "Wir haben schließlich menschliche Spiele versprochen […] da glaube ich, paßt er ganz gut".
Timofej – Munich's Urban Legend
Mit den Olympischen Spielen wurde aus den illegalen Bewohnern des Oberwiesenfelds eine Urban Legend und aus Väterchen Timofej eine populäre Ikone. Rechtzeitig zu Beginn der Spiele veröffentlichte die Illustrierte Bunte eine Fotostory über Natalja - alias Natascha - und Timofej. Darin traten sie im 100-Meter-Lauf auf der Aschenbahn des Olympiastadions gegeneinander an.


Zahllose Menschen besuchten während der Spiele die beiden Eremiten im Olympiapark. Nicht zuletzt die Hostess Silvia Sommerlath, die 1972 in München Bekanntschaft mit ihrem späteren Mann König Carl XVI. Gustaf von Schweden machte.

Otfried Schmidt, Fotografie, 1972, Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo

Otfried Schmidt, Fotografie, 1972, Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo
Ein Jahr nach den Olympischen Spielen heiratete Timofej seine langjährige Lebensgefährtin im Standesamt in der Nymphenburger Straße. Als Natalja 1977 starb, konnte Timofej ihren Wunsch, auf ihrem Anwesen neben der Ost-West-Friedenskirche bestattet zu werden, nicht erfüllen. Er selbst verbrachte seine letzten Lebensjahre in Altenheimen und Krankenhäusern. Beide liegen auf dem Westfriedhof begraben.

Unbekannt, Fotografie, 1973, IMAGO/WEREK

Unbekannt, Fotografie, 1973, IMAGO/WEREK
Ihre Enklave bezeichnete Münchens Oberbürgermeister Christian Ude einmal als "Münchens liebenswürdigsten Schwarzbau". Heute kümmern sich die Mitglieder der Stiftung Ost-West-Kirche e.V. um das Andenken und Anwesen der beiden ehemaligen Bewohner. Nach der Umwandlung des Areals in eine Gedenkstätte, wurden die Schwarzbauten 2014 nachträglich legalisiert.

Karl-Heinz Egginger, Fotografie, um 1992, Karl-Heinz Egginger/Süddeutsche Zeitung Photo

Karl-Heinz Egginger, Fotografie, um 1992, Karl-Heinz Egginger/Süddeutsche Zeitung Photo
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Väterchen Timofej ist auch in der 28-teiligen Künstlerplakatserie, die anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1972 in München erschien, verewigt. Auf dem von Friedensreich Hundertwasser gestalteten Plakat ist mittig eine russisch-orthodoxe Kirche mit Zwiebeltürmen zu erkennen. Sie soll an die Ost-West-Friedenskirche von Natalja und Timofej auf dem Olympiagelände erinnern.
Hundertwasser hatte die Eremiten und ihre mit glitzernder Aluminiumfolie ausgestattete Kirche selbst besucht, bevor er das Plakatmotiv entwarf. "Ich fühlte meinen Hang zu Gold und Silber und Metallprägungen bestätigt. Es war ein heiliges Gefühl", erklärte er später hierzu.
Sogar in der Kunstplakatserie "Edition Olympia" wird die Ost-West-Friedenskirche von Timofej und Natalja aufgegriffen. Das von Friedensreich Hundertwasser gestaltete Motiv zeigt ein Fußball-Länderspiel zwischen Österreich und England im Jahr 1952. In der Mitte ist eine russisch-orthodoxe Kirche mit Zwiebeltürmen zu erkennen.
Friedensreich Hundertwasser, Plakat, 1972, Münchner Stadtmuseum/IOCSogar in der Kunstplakatserie "Edition Olympia" wird die Ost-West-Friedenskirche von Timofej und Natalja aufgegriffen. Das von Friedensreich Hundertwasser gestaltete Motiv zeigt ein Fußball-Länderspiel zwischen Österreich und England im Jahr 1952. In der Mitte ist eine russisch-orthodoxe Kirche mit Zwiebeltürmen zu erkennen.
Friedensreich Hundertwasser, Plakat, 1972, Münchner Stadtmuseum/IOCIn Anwesenheit von Timofej (links) und Natalja (rechts) signiert der Künstler Friedensreich Hundertwasser seine Serie von nummerierten Originalgrafiken aus der Kunstplakatserie "Edition Olympia".
Otfried Schmidt, Fotografie, 29.9.1971, Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung PhotoIn Anwesenheit von Timofej (links) und Natalja (rechts) signiert der Künstler Friedensreich Hundertwasser seine Serie von nummerierten Originalgrafiken aus der Kunstplakatserie "Edition Olympia".
Otfried Schmidt, Fotografie, 29.9.1971, Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo