Die Organisatoren der Olympischen Spiele in München 1972 legten großen Wert auf ein vielfältiges, kulturelles Begleitprogramm. Auf dem Olympiagelände wurde die Verbindung von Sport und Kunst besonders eindrucksvoll umgesetzt. Unter der Bezeichnung "Spielstraße" fand dort in direkter Nachbarschaft zu den Sportstätten ein avantgardistisches, interaktives Kunstprogramm völlig neuen Formats statt.
Über 200 internationale Künstler*innen bespielten entlang des südlichen Seeufers unterhalb des Olympiabergs und dem gegenüberliegenden Theatron ein mit Podesten, Buden und Podien versehenes Areal. Täglich zwölf Stunden wurde dort kostenlos ein neuartiges und provokantes Programm dargeboten. Die Besucher*innen sollten mithilfe neuer Kunstformen in die Beiträge einbezogen werden. Ziel war es, einen Ort der Begegnung und des Miteinanders für Erwachsene und Kinder zu schaffen.

Marlies Schnetzer, Fotografie, 1972, Marlies Schnetzer/Süddeutsche Zeitung Photo

Marlies Schnetzer, Fotografie, 1972, Marlies Schnetzer/Süddeutsche Zeitung Photo

Unbekannt, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0264)

Unbekannt, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0264)

Unbekannt, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0261)

Unbekannt, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0261)

Ewald Glesman, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0267)

Ewald Glesman, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0267)
Die vielfältigen Darbietungen verliehen der Spielstraße etwas von einem Jahrmarkt oder einem großen Spielplatz mit Aktionskunst, Gaukelei und Musik. Damit verkörperte sie das Motto der fröhlichen und "heiteren" Spiele besonders nachhaltig. München und die Olympischen Spiele konnten sich damit als fortschrittlich und gegenüber der zeitgenössischen Kunstszene aufgeschlossen präsentieren und einen deutlichen Imagegewinn verbuchen.
"Das große Spiel"
Im April 1969 löste der Münchner Kulturreferent Herbert Hohenemser eine heftige Debatte im Organisationskomitee aus. Unter dem Titel "Das große Spiel" präsentierte er den Protoyp der später realisierten Spielstraße. Jugend, Sport und Kunst sollten auf eine zeitgemäße und revolutionäre Art und Weise - mithilfe interaktiver, weitgehend spontaner Angebote - auf dem Olympiagelände zusammengeführt werden.

Unbekannt, Fotografie, um 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-PER-H-0560-05)

Unbekannt, Fotografie, um 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-PER-H-0560-05)
Vor allem Sicherheitsbedenken und Fragen der Außenwirkung führten schließlich dazu, dass der radikale Ansatz bis Juli 1970 deutlich abgeschwächt wurde. Doch selbst in ihrer weniger extremen Form war die Spielstraße eine beeindruckende neue Unternehmung in der Geschichte der Olympischen Spiele.
Das unter Leitung von Werner Ruhnau erarbeitete Konzept spiegelt deutlich die politischen Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre wider. Es steht in einem größeren Zusammenhang mit zeitgenössischen Diskursen über Stadtplanung, bewegliche Aneignung von städtischen Räumen und offenen Zugang zu Kunst und Kultur. Letztlich ging es um eine grundlegende Öffnung im Sinne von Demokratie, Toleranz und Transparenz.

Usa Borchert, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0259)

Usa Borchert, Fotografie, 1972, Stadtarchiv München (DE-1992-FS-ERG-P-0259)
Mit rund 1,2 Millionen Besucher*innen - und damit doppelt so vielen wie bei allen anderen kulturellen Veranstaltungen zusammengenommen - war sie ein durchschlagender Erfolg. Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, bezeichnete im Rückblick die Spielstraße als einen der Höhepunkte der Spiele.

Unbekannt, Fotografie, 1972, Horstmüller/Süddeutsche Zeitung Photo

Unbekannt, Fotografie, 1972, Horstmüller/Süddeutsche Zeitung Photo
"Heute kein Programm"
Die Darbietungen auf der Spielstraße kommentierten und inszenierten in erster Linie die Olympischen Spiele und ihre Geschichte. Dabei enthielten die Beiträge aber auch deutlich olympiakritische Elemente. Sie setzten sich mit dem Leistungssport, Konkurrenzkampf und Doping sowie Politik, Kultur und Gesellschaft auseinander.

Otfried Schmidt, Fotografie, 1972, Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo

Otfried Schmidt, Fotografie, 1972, Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo

Unbekannt, Fotografie, 1972, Privatbesitz

Unbekannt, Fotografie, 1972, Privatbesitz
Ein solches olympiakritisches Begleitprogramm erscheint heute nur noch schwer vorstellbar. Immer stärker formen Sponsoren mit ihren eigenen Interessen die Kulturprogramme von Olympischen Spielen mit. Auch 1972 war die Spielstraße keineswegs bei allen politischen Entscheidungsträgern erwünscht. Dies spiegelt sich deutlich in der Anweisung des Olympischen Komitees nach dem Anschlag auf die israelische Sportlermannschaft am 5. September 1972 wider.
Während die sportlichen Wettkämpfe und auch das Kulturprogramm weiterliefen, wurde auf einer außerordentlichen Sitzung am 6. September 1972 beschlossen, die Spielstraße aufzulösen. Nach nur zehn Tagen Laufzeit endete sie vorzeitig. Damit ist die Spielstraße ein unvollendetes Kunstereignis geblieben. Mit ihren für die Gegenwart so relevanten Themen wie offene Gesellschaft, öffentlicher Teilnahme und Versammlungsfreiheit wirkt sie aus heutiger Perspektive umso zukunftsweisender.

Peter Mell, Hans Poppel, Uwe Streifeneder, Plakat, 1972, Münchner Stadtmuseum

Peter Mell, Hans Poppel, Uwe Streifeneder, Plakat, 1972, Münchner Stadtmuseum